Kann uns die Weltsicht Gandhis und Lanza del Vastos helfen, die aktuelle Krise besser zu verstehen und Wegweiser aus ihr heraus zu finden? Diese Frage bewegt mich wie viele meiner Arche-Freund*innen seit dem Ausbruch der Pandemie. Ausgehend von zwei Bildern suche ich im folgenden Text nach Antworten.
1.Was hat das Containerschiff Ever Given mit der Pandemie zu tun?
Ein Foto, das mich ebenso amüsierte wie erschreckte, beherrschte für einige Tage im März 2021 die Medien. Es zeigte das 400m lange Containerschiff Ever Given , das sich – warum auch immer – zwischen den Ufern des Suez Kanals verkantet hatte. Für Tage war das Nadelöhr des Welthandels mit gewaltigen ökonomischen Folgen blockiert. Nach Einschätzung der Allianz betragen die zusätzlichen Kosten für die betroffenen Firmen 6 bis 10 Milliarden Dollar in der Woche (allein an der Ladung der Ever Given sind 10.000 Firmen beteiligt). Die ohnehin seit Anfang des Jahres aufgetretenen Lieferverspätungen bei Alltagsgütern und insbesondere Halbleitern könnten im Welthandel zu Einbußen in Höhe von 230 Milliarden Dollar führen. Das entspricht in etwa den Auswirkungen des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 (Redaktions-netzwerk Deutschland/dpa, 23.3.2021).
Ist die quer liegende Ever Given nicht das ultimative Symbol für die Achillesverse der Globalisierung? Aufgrund der sich ständig verfeinernden globalen Arbeitsteilung, monströser Größenordnungen und unkontrollierbarer Verkettungen kann ein einziges Schiff dieses System in den Zustand der Selbstblockade versetzen. Das Corona-Virus liefert zwar nicht so anschauliche Bilder wie die Ever Given, stellt sich jedoch in ähnlicher Weise quer und blockiert unser privates wie öffentliches Leben. Auch sein Siegeszug war nur möglich durch die historisch einmalige Vernetzung der Menschheit. Die spanische Grippe brauchte noch einen Weltkrieg, um sich über den Globus auszubreiten. Corona reicht der Alltag unserer globalisierten Welt. So fanden 2019 weltweit rund 47 Millionen Flüge statt, die über 4,54 Milliarden Passagiere kreuz und quer über den Globus hin- und hertransportierten. Günstigere Bedingungen für die Ausbreitung einer Pandemie hat es in der Geschichte der Menschheit nie gegeben. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bereits 1970 veröffentlichten der Standford Professor P. Ehrlich ein Buch unter dem Titel „Population, Ressources, Environments. Issues in Human Ecology”, in dem er angesichts der ungeahnten Mobilität der Menschheit und ihrer zunehmenden Einsperrung in molochartigen Städten warnte: „Die Möglichkeit einer globalen Epidemie war noch nie größer, aber das menschliche Bewusstsein für diese Bedrohung war wahrscheinlich noch nie geringer.“ (zit. n. Roel van Duijn in espero, Januar 2021)
Wie sind wir in diese Lage geraten? Was können wir durch sie lernen?
Die Gandhi-Forscherin Gita Dharampal - bis 2018 Professorin an der Uni Heidelberg, heute tätig am Gandhi Research Foundation (Jalgaon) - gibt darauf eine interessante Antwort. Ihr Artikel im Indian Express vom 20.4.2020 enthält bereits in der Überschrift den entscheidenden Hinweis: „Covid fordert uns auf, Gandhis Prinzipien des Swadeshi, Swachhata und Sarvodaya zu beherzigen“. Weiter schreibt sie: „COVID-19 ist ein Weckruf für die postmoderne Welt. … Da der glänzende Glanz der Moderne als trügerische Fata Morgana entlarvt wird, dämmert es uns, dass unser globalisierter Lebensstil uns schwächer gemacht hat als je zuvor (aus Gandhi-Perspektive sowohl moralisch als auch physisch). .. Im Sinne Gandhis sind wir aufgerufen, ein tragfähiges alternatives Modell der Politik zu erarbeiten, das uns aus der gegenwärtigen Sackgasse befreien könnte. Orientieren können wir uns an seiner Wegbeschreibung, die vor allem einen Hinweis enthält: integriert Wirtschaft, Politik und Technologie mit Ethik. Um die Ausbreitung des Virus zu mildern sollten wir uns sofort an Gandhi, dem unentwegten Experimentator in der Naturheilkunde, orientieren und wirksame präventive Behandlungen (und Hausmittel) anwenden, eine ausgezeichnete persönliche Hygiene praktizieren und uns auf unsere Orte beschränken, Fernreisen und die Teilnahme an öffentlichen Versammlungen vermeiden.“
Gita Dharampal erkennt offenkundig die Bedrohung an, die von dem Corona-Virus ausgeht. Als Gandhi-Forscherin hat sie ein waches Bewusstsein für das Thema „Epidemien“, denn es spielte in Gandhis Leben immer wieder eine wichtige Rolle. Als er 1896 Indien besuchte brach in Bombay die Pest aus. Gandhi wurde in seiner Heimatstadt Rajkot in den Sanitärausschuss berufen, der die teilweise schockierenden hygienischen Verhältnisse in der Stadt zu verbessern suchte. 1903 brach in einer indischen Siedlung in Johannesburg die Pest aus. 23 Infizierte wurden in ein leer stehendes Haus gesperrt. Als Gandhi davon hörte, übernahm er mit Helfern die Pflege der Patienten. Er behandelte sie mit einer Schlammtherapie, konnte aber nicht verhindern, dass nur zwei Erkrankte überlebten. Seine Furchtlosigkeit veranlasste einige Europäer, sich ihm anzuschließen. Durch seine Erfahrungen mit der Pest erkannte Gandhi die zentrale Bedeutung von Hygiene und Sauberkeit für das Wohlergehen der Menschen und eine positive gesellschaftliche Entwicklung. Daher machte er das Prinzip Swatchhata (Sauberkeit) zu einem Kernelement seiner Mission. Er ging so weit zu sagen: „Die Sauberkeit ist wichtiger als die Unab-hängigkeit.“ Die indische Regierung rief 2019 zu Ehren von Gandhis 150tem Geburtstag die die Kampagne “Swatchhata Pakhwada - 2020” ins Leben.
Auch wenn wir immer wieder an die AHA-Regel erinnert werden müssen, so dürfte zumindest bei uns der Verstoß gegen Swatchhata nur eine untergeordnete Rolle bei der Ausbreitung des Virus spielen. Anders ist es mit den beiden anderen Prinzipien Gandhis, auf die Gita Dharampl verweist: Swadeshi und Sarvodaya. Die anfangs beschriebene Selbstblockade des globalen Systems kann geradezu als unvermeidliche Folge des Verstoßes gegen das Swadeshi-Prinzip verstanden werden. Swadeshi ist das Prinzip, das uns zu allererst auf den Dienst an unserer Familie bzw. unserem Nachbarn ausrichtet, auf die Anpassung unserer Bedürfnisse an unsere Umgebung, auf eine möglichst dezentrale Produktion und Konsumtion sowie politische Selbstverwaltung. Konkret wird dieses Prinzip in Gandhis Idee der sich selbst versorgenden und selbst verwaltenden Dörfer. Die frühe Arche Lanza del Vastos war ein Versuch, nach dieser Idee zu leben. Auf den ersten Blick mag Swadeshi als ein romantisch rückwärtsgewandtes Prinzip erscheinen, das angesichts der technischen und zivilisatorischen Entwicklung der letzten 100 Jahre vollends fragwürdig geworden ist. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich jedoch, dass es Gandhi nicht nur um ein politisch-ökonomisches Gestaltungsprinzip geht, womöglich ein nationalistisches oder gar fremdenfeindliches. Es geht ihm vielmehr um einen Geist, der sich nur in einem kleinräumigen Beziehungsnetz entwickeln kann und der deshalb im globalen Kapita-lismus zusehends schwächer wird. Für Gandhi hat Swadeshi die Bedeutung eines univer-sellen Gesetzes, weil die Hinwendung zu und der Dienst an den Menschen in der nächsten Umgebung einen entscheidenden Schritt in der menschlichen Entwicklung markiert. Der Mensch verlässt die Phase, in er nur um die Bedürfnisse des eigenen Körpers kreist und tritt in die Phase ein, in der er die Fürsorge für andere übernimmt, in der er die Fähigkeit zu Liebe und Demut entwickelt. In diesem Schritt emanzipiert sich die Seele vom Körper, ein Vorgang, der weit über die unmittelbare Umgebung hinauswirkt. „Ich glaube, dass ein Mensch gleichzeitig seinem Nachbarn und der Welt dienen kann ….Wenn der Dienst am Nachbarn nicht egoistisch ist, so wird sich dieser Geist um die ganze Welt ausbreiten.“ (Gandhi). Wenn das Swadeshi-Gesetz jedoch verletzt wird, so führt das nicht nur zur Selbstblockade des globalen Systems, sondern auch zu dessen moralischem Verfall. Wir erleben, wie sich die Schere zwischen Arm und Reich sowohl innerhalb der Gesellschaften wie zwischen den Nationen immer weiter öffnet, wie die Korruption nicht vor der Ausnutzung der aktuellen Notlage zurückschreckt und die gedankenlose Ausnutzung der natürlichen Ressourcen die Grundlagen allen Lebens auf der Erde gefährdet.
Das leitet über zu dem dritten Prinzip, das wir aus der Sicht von G.Dharampal ignorieren: Sarvodaya, das mit „Wohlfahrt für alle“ übersetzt wird. Diesem Prinzip Gandhis liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es dem Einzelnen nur dann wirklich gut geht, wenn es auch den Menschen um ihn herum gut geht. Damit nicht die einen in Luxus auf Kosten der anderen leben, müssen sowohl die Arbeit wie die Mittel zum Leben gerecht verteilt sein. Voraussetzung dafür ist, dass alle Arbeiten als gleich wertvoll angesehen werden und ein Lebensstandard angestrebt wird, der den ökonomischen wie ökologischen Möglich-keiten entspricht. Dabei kann es durchaus Einkommensunterschiede geben. Wer mehr als genug hat, gibt jedoch aus eigenem Entschluss denen etwas ab, die Mangel leiden. Diese Art des Lebens bezeichnen Gandhi und Lanza als „Einfaches Leben“.
Die Pandemie offenbart in mehrfacher Hinsicht den Widerspruch zwischen unserer westlichen Lebensart und Swarodaya. In sozialer Hinsicht erleben wir zurzeit, wie die Schere zwischen Arm und Reich die Dynamik der Virusverbreitung antreibt. Unter-suchungen zeigen, dass die Virusausbrüche häufig in den wohlhabenden Gebieten starten, dort wo die Menschen mobil sind und viel reisen. Dann springen sie über auf die ärmeren Gebiete, wo die Krankheit die Menschen physisch wie sozial ungleich härter trifft. Das häufig zitierte Beispiel ist die reiche Brasilianerin, die das Virus aus ihrem Skiurlaub in Ischgl mitbringt und an ihr Dienstmädchen weitergibt, das es in den engen und schlechten hygienischen Verhältnissen ihrer Favela verteilt. Von dort aus verschafft sich das Virus dann wieder Zugang zu allen Schichten. Ähnliches erleben wir im globalen Maßstab. Während die reichen Länder die Mittel haben, das Virus einzudämmen, breitet es sich in ärmeren Ländern – aktuell Indien – weiter aus und wird von dort mit Mutanten in die reichen Länder zurückkehren. Besonders deutlich wird die Bedeutung der „Wohlfahrt für alle“ beim Blick auf die Gemeinschaft aller Lebewesen auf dieser Erde. Wenn Wissenschaftler heute von One Health sprechen, dann meinen sie damit, dass es „Wohlfahrt“ für die Menschen nur geben kann, wenn es auch „Wohlfahrt“ für die anderen Lebewesen gibt. Das Robert Koch Institut (RKI) erklärt One Health folgendermaßen: „Mehr als die Hälfte aller bekannten Erreger, die Erkrankungen beim Menschen hervorrufen, sind so genannte Zoonose-Erreger. Diese Bakterien, Pilze, Viren und Parasiten können zwischen Mensch und Tier übertragen werden. Eine wachsende Bevölkerung, steigende Mobilität, schwindende Lebensräume, industrielle Landwirtschaft und intensivierte Nutztierhaltung - all dies sind Faktoren, die das Risiko für eine schnelle weltweite Ausbreitung von Krankheitserregern erhöhen.“
2. Was hat Gandhi auf einer Querdenker-Demo zu suchen?
Ist es euch auch schon aufgefallen? Auf vielen Pressefotos von „Querdenker“- Demos sind neben Regenbogen- und vielen Deutschlandfahnen oft große Plakate mit einem Portrait Gandhis zu sehen. Was mag die Träger dieser Plakate motivieren? Ich konnte leider noch niemanden fragen und auch in den einschlägigen Websites der Szene fand ich keine Begründung. Also muss ich Vermu-tungen anstellen. Es könnte sein, dass Gandhi hier einfach benutzt wird, um sich den Anstrich einer friedliebenden und sympathischen Bewegung zu geben. Es könnte aber auch sein, dass Gandhi als Vorbild und Verbündeter im Kampf um die Freiheit gesehen wird, die man bedroht sieht und für die man auf die Straße geht. In vielen Gesprächen habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Corona-Einschränkungen das Freiheitsbedürfnis der Menschen auf unterschiedlichen Ebenen triggern. Zunächst sind da diejenigen, bei denen z.B. die Masken-Pflicht eine ganz unmittelbare, spontane Auflehnung auslöst, die sich aus schlichtem Widerwillen speist und die keine weitere Begründung braucht. Etwas grundsätzlicher ist die Gruppe, für die Individualismus, freie Entfaltung der Persönlichkeit und Selbstverwirklichung Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens sind. Dann sind da diejenigen, die die im Grundgesetz verankerten Freiheitsrechte gefährdet und Deutschland auf dem Weg in die „Corona-Diktatur“ sehen. Schließlich gibt es Gruppierungen, die schon lange die Übergriffigkeit des Staates argwöhnisch beobachten und sich jetzt in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt sehen. Dazu gehören z.B. Kritiker der Impfpflicht, der Schulpflicht, der öffentliche-rechtlichen Medien und der obligatorischen Rundfunkgebühren sowie die Vertreter der Sozialen Dreigliederung nach R.Steiner und andere.
Inwieweit können sich diese verschiedenen und im Einzelfall sicherlich vermischenden Strömungen auf Gandhi berufen?
Auf den ersten Blick kann das die letztgenannte staatskritische Gruppe sehr wohl tun. Wie sie nahmen Gandhi und sein Nachfolger Lanza del Vasto eine äußerst skeptische Haltung gegenüber dem Staat ein. „Gandhis politische Ordnungsvorstellungen tragen eindeutig anarchistische Züge. Sein ausgeprägter Individualismus stellt das Gewissen des Einzelnen über das Recht des Staates. Daher lehnt er einen ‚starken Staat‘ ab: Der Staat stellt Gewalt in konzentrierter und organisierter Form dar. Das Individuum hat eine Seele, aber der Staat ist eine seelenlose Maschine. Man kann ihn nie von der Gewalt abbringen, weil er dieser ja seine Existenz verdankt. Dieser staatlichen Gewalt stellt er sein Ideal einer gewaltfreien, dezentralen Gesellschaft gegenüber, die eine freiwillige Assoziation von Individuen bildet. Jeder folgt der Wahrheit gemäß seinem Gewissen. Daher lehnt Gandhi eine Demokratie auf der Basis von Mehrheitsentscheidungen ab, da sie stets ihre Ziele auf Kosten der Minderheit verfolgt. Das Gewissen des Individuums ist die Entscheidungsinstanz für eine moralische Politik, es allein gibt dem einzelnen das Recht, Widerstand gegen unmoralische Gesetze des Staates zu leisten.“ (Clemens Jürgenmeyer: An der Wahrheit festhalten, Mahatma Gandhis Lehre vom gewaltfreien Leben). Die Gewissensentscheidung des Einzelnen findet jedoch für Gandhi im Unterschied zum abendländisch individualistischen Verständnis nicht in der moralischen Unbestimmtheit und auch nicht im stillen Kämmerlein statt, sondern ist in zweierlei Weise in den sozialen Kontext eingebettet. Zum einen ist sie an den Maßstab der „Wolhlfahrt für alle“ (Swadeshi) gebunden. Zum anderen ist sie eingebunden in die kollektive Suche nach Wahrheit. „Wahrheit“ ist immer nur fragmentarisch, vorläufig zu haben und sie entsteht stets in der sozialen Interaktion. Gandhi: „Wahrheit kommt nicht als Wahrheit, sondern als sogenannte Wahrheit daher“, „Jeder Mensch hat einen Anteil an der Wahrheit“. Das bedeutet, dass sich eine fundierte Gewissensentscheidung nur in einem Dialog entwickeln kann. Es besteht geradezu eine moralische Verpflichtung, sich auf diesen Dialog einzulassen und aktiv an ihm mitzuwirken. Das setzt die Bereitschaft voraus, die eigene Wahrheit in Frage stellen zu lassen und selbst in Frage zu stellen.
Aus Gandhis und Lanzas skeptischer Haltung gegenüber dem Staat ergibt sich, dass „Freiheitsrechte“ oder „Grundrechte“ im ihrem Denken kaum eine Rolle spielen. Diese Art von „Recht“ wird erst durch die Verankerung in Verfassungen wirkmächtig und setzt insofern eine staatliche Struktur voraus. Die „Freiheit“, die eine Verfassung garantiert ist für Lanza ein “Trugbild“, sie ist „negativ und fiktiv“ (Macht der Friedfertigen), da sie nicht auf lebendigen menschlichen Beziehungen fußt, sondern auf einem abstrakten Konstrukt. Gandhi definiert „als das fundamentalste Grundrecht das Recht auf Leben, das Recht auf Subsistenz - aber dies verbunden mit der Erfüllung der gemeinwohlbezogenen Pflichten. An abstrakt formulierten Grundrechten hat er nicht eigentlich Interesse. Ihm geht es um die konkreten Rechte und Pflichten, die mit diesem Grundrecht auf Leben verbunden sind.“ (U.Durchow: Gandhi - Die Überwindung westlicher Gewalt ) An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass „Politik“ in der gewaltfreien Tradition nicht ein Spiel mit und um die Macht in einem bestimmten institutionellen Rahmen sondern im Kern „gegenseitiger uneigennütziger Dienst“, „Inbegriff aktiver Selbstentäußerung an die Welt“(Gandhi) ist. Aus dieser Perspektive ist die individuelle Freiheit unauflösbar mit der gemeinwohl-bezogenen Pflicht verbunden.
Kommen wir nun zu den beiden ersten Aspekten des aktuellen Rufes nach Freiheit: dem unmittelbaren, nicht begründungs-bedürftigen Widerwillen gegen z.B. die Maskenpflicht und die Angst, dass der persönlichen Entfaltungsfreiheit immer engere Grenzen gesetzt werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch Gandhi und Lanza zu den Menschen gehörten, die äußerst sensibel und heftig auf Eingriffe in ihr persön-liches Leben reagierten. So hat Gandhis Schlüsselerlebnis beim Rausschmiss aus der 1.Klasse auf der Zugfahrt nach Johannesburg ihren Ausgangspunkt höchstwahrscheinlich in einer emotionalen Aufwallung. Auch die folgenden Worte Lanzas sprechen in ihrer Diktion wie ihrem Inhalt für sich: „Meine Freiheit besteht darin, dass ich tue, was mir gefällt. Ich habe (auch als Staatsbürger, K.P.) nicht darauf verzichtet und behalte mir diese Freiheit vor, soweit es möglich ist.“ (Macht der Friedfertigen, S.206). Die Meisten von uns werden solchen Sätzen begeistert zustimmen. Aber Vorsicht! Wenn Gandhi und Lanza über die Freiheit sprechen, so finden wir auch solche Sätze: „Der beste Weg, sich selbst zu finden, ist es, sich für das Wohl anderer einzusetzen.“ (Gandhi). „Die Freiheit gehört denen, die sich hingeben, die sich verschenken können.“ (Lanza del Vasto, Die Macht der Friedfertigen, S.203). Diese Formulierungen erwachsen aus der Überzeugung, dass „Freiheit selber ein Geschenk ist“ (Lanza, S.203), ein Geschenk der Schöpfung oder Gottes. Dieses Geschenk ist dem Menschen nicht zugekommen, um sich aus der Gemeinschaft zurückzuziehen oder gar sein Ego zu hätscheln. Gandhi : „Ich schätze die individuelle Freiheit, aber man darf nicht vergessen, dass der Mensch im Wesentlichen ein soziales Wesen ist. Er ist zu seinem heutigen Status aufgestiegen, indem er gelernt hat, seinen Individualismus an die Anforderungen des sozialen Lebens anzupassen. … Die Bereitschaft, sich der sozialen Rücksichtnahme zum Wohle der gesamten Gesellschaft zu unterwerfen, bereichert sowohl den Einzelnen als auch die Gesellschaft.“
Der Unterschied zwischen dem Freiheits-verständnis Gandhis und Lanzas zu dem im aktuellen Zeitgeist vorherrschenden wird für mich vor allem in einem Punkt deutlich: während bei uns im Rahmen eines verengten Individualisierungsideals seit etwa 50 Jahren der Blick einseitig auf den negativen Freiheitsbegriff, auf die „Freiheit von…“ fokussiert ist, geht es bei Gandhi und Lanza immer auch um das „Freiheit für…“. Für sie liegt der tiefe Sinn der Freiheit nicht in der bloßen Unabhängigkeit von Regeln und Anforderungen, sondern in der Erfüllung der eigentlichen Berufung des menschlichen Seins und das ist die Berufung zum „Dienst an Anderen“. Das mag zunächst wie der erhobene Zeigefinger zweier notorischer Moralisten erscheinen. Dahinter steht jedoch eine tiefe Weisheit. Um wirklich frei zu sein bedarf es nicht nur der Freiheit von äußeren Zwängen, sondern auch der von inneren. Das können Ängste, Verhaltensmuster oder ideologische Fixierungen sein. Der Lackmustest auf meine innere Freiheit ist die Freigiebigkeit. Erst wenn ich frei bin von der Angst etwas zu verlieren (materiell oder ideell) und mich nicht mehr in ständiger Hab-Acht-Stellung gegenüber meinem Umfeld befinde bin ich frei, aus meinem innersten göttlichen Kern heraus zu leben. Dann kann ich die Liebe fließen lassen und andere damit anstecken. Darauf beruht die revolutionäre Kraft der Gewaltfreiheit, die stärker ist als Atombomben (Lanza).
3. Was tun? – „Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.“ (Gandhi)
Corona sei ein “Weckruf für die postmoderne Welt“, um sich auf die tiefe Weisheit der Prinzipien des Swadeshi, Swachhata und Sarvodaya zu besinnen - das hat G.Dharampal festgestellt. Aber wie können wir diesen Prinzipien in der aktuellen Krise Gehör verschaffen, sie bedeutsam werden lassen?
Zunächst einmal dürfen wir uns von ihnen inspirieren lassen. Träume und Visionen öffnen gerade in Krisenzeiten einen Weg aus der Erstarrung heraus, wecken Hoffnungen und ermutigen zum Handeln. Ich wünsche mir Zukunftswerkstätten, Traumrunden und Bürgerräte auf lokaler, nationaler und globaler Ebene, in denen „ganz normale Bürger*innen“ konkretisieren, wie „Wohlfahrt für alle“ funktionieren könnte, wie Wirtschaft, Politik und Technologie unter ethischen Maximen neu geordnet werden könnten. Wir hätten jedoch Gandhis Vorstellungen von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und von Politik überhaupt missverstanden, wenn wir es beim Träumen beließen. Auch die Formulierung von Parteiprogrammen und selbst der Sieg bei Wahlen entsprächen nicht Gandhis Vorstellung von guter Politik. „Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.“ Solange wir nur vorschlagen oder fordern und unseren Repräsentanten das Handeln überlassen wird sich nicht viel ändern. Zum einen deshalb, weil eine gewaltfreie Veränderung nur von unten her, durch das gemeinschaftliche Handeln der Menschen möglich ist. Zum anderen deshalb, weil es keine wirkliche gesellschaftliche Veränderung ohne die Veränderung jede*r Einzelnen geben wird. Die sowohl individuell wie gesellschaftlich geprägten Verhaltensweisen, Denkmuster und Bedürfnissen der Menschen sind Teil und Stütze der Verhältnisse, deren Veränderung wir ersehnen. „Sei die Veränderung“, das bedeutet „Sei bereit dich zu hinterfragen, sei bereit an dir zu arbeiten, sei bereit aus alten Mustern auszubrechen“. Einseitige Schuldzuweisungen an „den Staat“ oder die „globale Elite“ gehen genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie sind vielmehr Teil jener Denkweise, die bisher tiefgreifende Veränderungen verhindert hat.
Wie aber kann ich nun „selbst die Verände-rung sein“? Folge ich nicht schon dem Swadeshi-Prinzip wenn ich - durch das Pandemieregime genötigt – mehr Zeit und Aufmerksamkeit den Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung schenke oder wenn ich mich mit dem Picknick auf der Fahrradtour begnüge? Nein, der „Geist“ von Swadeshi und Sarvodaya meint mehr. Dieser Geist weht nur dort, wo Menschen sich zusammentun und als Gemeinschaft ihr Leben in die Hand nehmen. Das eigentliche Problem besteht darin, dass wir die Fähigkeit zum gemeinschaftlichen Handeln bisher nur schwach entwickelt haben. Sie wird blockiert durch ein Denkmuster, in dem „Freiheit“ vor allem als „Freiheit von etwas …“ gedacht wird, nicht als „Freiheit zum Dienen und Teilen“, zum Mitwirken an der „Wohlfahrt für alle“. Sie wird auch verhindert durch ein Verständnis von „Wahrheit“, dass „Wahrheit“ als individuellen, ängstlich zu verteidigenden Besitz versteht. Rumi weist mit einem wundervollen Bild den Weg aus dieser Sackgasse heraus: „Abseits von richtig und falsch gibt es einen Raum. Dort werde ich dir begegnen“.
So schwer es auch mir selbst fällt, aber die Entwicklung und Einübung der Fähigkeiten zum gemeinschaftlichen Handeln ist der Schlüssel für das Tor zu „der Welt, die du sehen willst“.
Karsten Petersen, Friedenshof
April 2021
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